"Spezialausgabe: Neustart nach der Wahl für die Wirtschaft?"
Titus Kroder:
Hallo und herzlich willkommen zu einer ersten Analyse der Wahl zum Deutschen Bundestag. Das HVB-Marktbriefing hat für Sie kurzfristig diese Sonderausgabe produziert. Denn noch selten zuvor lasteten auf einer Wahl so hohe Erwartungen von Unternehmen, Investoren und Verbrauchern wie auf der Abstimmung im Februar 2025.
Fest steht bislang: Der nächste Bundeskanzler heißt sehr wahrscheinlich Friedrich Merz von der CDU. Der allerdings wird für eine regierungsfähige Mehrheit nicht ohne Koalitionspartner auskommen. Was kann man also so kurz nach dem Wahlabend ablesen? Welche Trends und Richtungsentscheidungen erwarten Unternehmen und Kapitalmärkte von diesem Ergebnis?
Ich habe dazu die HVB-Experten Andreas Rees und Philipp Gisdakis eingeladen, die trotz hoher Termindichte am Tag nach der Wahl hier im Marktbriefing ihre Einschätzungen zur wohl wichtigsten politischen Abstimmung der letzten Jahre abgeben. Hallo, ihr beiden – danke, dass ihr euch die Zeit für diesen Sonderpodcast genommen habt.
Andreas Rees:
Hallo, grüßt euch.
Philip Gisdakis:
Hallo.
Titus Kroder:
Andreas, im ersten Überblick: Was ist die herausragende Botschaft dieses Wahlergebnisses für dich als Chefvolkswirt der HVB?
Andreas Rees:
Oh, Titus, das ist natürlich etwas hochgegriffen. Aber wenn ich mir jetzt etwas wünschen könnte aus Sicht eines Volkswirts, dann Folgendes: Die Regierung legt eine Art Masterplan vor. Das könnte eine Mischung sein aus kurzfristigen Konjunkturmaßnahmen und einigen wichtigen Strukturreformen.
Das würde auf der einen Seite die Privathaushalte, aber auch die Unternehmen beruhigen. Denn die haben in den letzten Jahren viele Veränderungen durchgemacht: höhere Energiepreise, die Bewältigung der Energiewende, verschiedene Regulierungen. Wenn die neue Regierung unter Beweis stellt, dass sie die Weichen wieder auf Wachstum stellen kann, würde das das Vertrauen in die Politik stärken – und mehr Vertrauen bedeutet auch, dass die Ausgaben von Privathaushalten und Unternehmen wieder steigen.
Wenn ich mir die Umfragen anschaue, zum Beispiel "Deutschland rennt" vor der Wahl: Mehr als 80 % der Deutschen haben gesagt, dass sie sich Sorgen machen über die politische und wirtschaftliche Lage. Wir brauchen mehr Optimismus – und alleine das würde schon ein bisschen mehr Schub bringen für die Wirtschaft.
Titus Kroder:
Philipp, als Chief Investment Officer der HVB verwaltest du federführend ein umfassendes Anlagevermögen für eure Kunden. Wie lautet für dich aus Finanzmarkt-Sicht die Überschrift über diesen Wahlausgang?
Philip Gisdakis:
Grundlegend positiv – mit der ein oder anderen Einschränkung. Die Mehrheitsverhältnisse sind ja nicht ganz einfach im neuen Bundestag. Die Märkte haben bis zum Zeitpunkt dieser Aufzeichnung grundlegend positiv reagiert. Allerdings ist das Ergebnis auch nicht deutlich anders als das, was vorher erwartet wurde.
Und deswegen ist das, was vorher eingepreist wurde – nämlich eine positive Entwicklung für die deutsche und europäische Konjunktur – jetzt auch im Kapitalmarkt reflektiert. Man sieht das zum Beispiel an einem stärkeren Euro-Dollar-Wechselkurs und auch am positiven Trend des deutschen Aktienmarkts.
Titus Kroder:
Es wird viel Geld kosten, um Deutschland an seinen vielen aktuellen Schmerzpunkten wieder flott zu machen – Stichworte: Digitalisierung, Bildung, massive Verteidigungsausgaben. Dafür müssen enorme Haushaltsposten eingestellt werden. Bislang steht dem die Schuldenbremse im Weg. Wie stehen nun die Chancen, Andreas, dass hier mehr Flexibilität möglich ist?
Andreas Rees:
Als Volkswirt muss ich etwas weiter ausholen. Höhere staatliche Investitionen kann man natürlich auch durch Einsparungen finanzieren – allerdings ist der finanzielle Mehrbedarf vermutlich so gewaltig, dass das allein durch Einsparungen politisch nicht durchsetzbar ist.
Studien schätzen, dass in den nächsten fünf Jahren bis zu 800 Milliarden Euro zusätzlich für Infrastruktur, Energiewende, Bundeswehr, Erziehung und Bildung ausgegeben werden müssen. Das ist eine gewaltige Summe.
Natürlich hinterlässt man mit neuen Schulden auch Lasten – Zinszahlungen, Tilgung. Aber gleichzeitig hat man die Chance auf höheres Wachstum und eine bessere Infrastruktur – das dürfte sich auszahlen.
Zur Schuldenbremse: CDU, CSU, SPD und Grüne haben keine Zweidrittelmehrheit im Bundestag – sie haben sie knapp verfehlt. Diese Mehrheit wäre notwendig für die Lockerung der Schuldenbremse oder die Einrichtung eines Schattenhaushalts, wie beim Sondervermögen für die Bundeswehr. Auch im Bundesrat wäre eine Zweidrittelmehrheit notwendig.
Die AfD wird vermutlich nicht zustimmen. Viel hängt deshalb von der Linken ab. Die hat Bereitschaft signalisiert, Ausgaben für Infrastruktur und Bildung mitzutragen – ist aber gegen höhere Militärausgaben. Die neue Regierung wird hier also einen kniffligen Spagat machen müssen.
Ein mögliches Szenario: Die Bundeswehrausgaben laufen über den regulären Haushalt, während ein Schattenhaushalt für Infrastruktur über eine Zweidrittelmehrheit möglich wird. Alternativ könnte sich die Regierung auf eine Notsituation berufen und so die Schuldenbremse vorübergehend aussetzen – das würde nur eine einfache Mehrheit erfordern, wäre aber juristisch riskant und könnte vor dem Bundesverfassungsgericht landen.
Titus Kroder:
Es wird auch spekuliert, dass die alte Regierung noch schnell eine Lockerung der Schuldenbremse durchsetzt – ist das realistisch?
Andreas Rees:
Ich habe das auch gelesen. Innerhalb von 30 Tagen nach der Bundestagswahl muss laut Verfassung der neue Bundestag zusammentreten. Theoretisch gäbe es also einen Monat, in dem der alte Bundestag mit seiner Mehrheit noch eine solche Änderung beschließen könnte – also etwa einen Schattenhaushalt einführen.
Ob das rechtlich und politisch Bestand hätte, wäre fraglich – und es hätte sicherlich auch ein „Geschmäckle“. Aber wissen werden wir es bald – in spätestens einem Monat.
Titus Kroder:
Philipp, bis zu 800 Milliarden Finanzierungsbedarf – was heißt das aus Sicht der Investoren am Anleihenmarkt? Wird eine Lockerung der Schuldenbremse erwartet?
Philip Gisdakis:
Ja, das war eines der zentralen Themen am Kapitalmarkt: die Erwartung, dass in Zukunft mehr deutsche Staatsanleihen emittiert werden könnten. Man sieht das am Bund-Swap-Spread, also der Differenz zwischen Renditen deutscher Bundesanleihen und den Swap-Sätzen.
Traditionell lagen Bundesanleihen mit AAA-Rating unter den Swapsätzen – wegen der großen Nachfrage und geringen Emissionen. In letzter Zeit hat sich das aber verändert: Die Spreads sind geschrumpft, teils sogar umgekehrt – d.h. die Bundesrenditen lagen über den Swapsätzen. Das deutet darauf hin, dass der Markt mehr Angebot an deutschen Staatsanleihen erwartet.
Und was macht man mit den zusätzlichen Schulden? Eine Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft zeigt: Wenn die Verteidigungsausgaben der NATO-Staaten von 2 % auf 3,5 % steigen, könnte das europäische BIP jährlich um 0,9 bis 1,5 % steigen – wenn die Beschaffung innerhalb der EU erfolgt. Derzeit kommen 80 % der Beschaffung von außerhalb.
Fazit: Schulden können Wachstum bringen – wenn sie klug investiert werden.
Titus Kroder:
Andreas, wie viel Handlungsspielraum hat die neue Regierung in wirtschaftspolitischer Hinsicht – gerade angesichts globaler Handelsrisiken und drohender Zölle?
Andreas Rees:
Deutschland ist stark exportabhängig – daher besonders anfällig für höhere Zölle, etwa aus den USA. Aber Deutschland kann nicht im Alleingang agieren. Außenwirtschaftspolitik ist EU-Kompetenz – und nicht alle Länder teilen den deutschen Fokus auf Exporte.
Das hat man letztes Jahr gesehen bei den Zöllen auf chinesische Elektroautos: Frankreich wollte härtere Maßnahmen – Deutschland wurde überstimmt.
Die EU braucht dringend eine gemeinsame, aktive Außenwirtschaftspolitik – eine, die klar auf Trump, China und andere Herausforderungen reagiert. Wenn ich mir als Volkswirt etwas wünschen dürfte, dann wäre es: Europa sollte gegenüber den USA deeskalierend agieren. Also z. B. LNG abkaufen, Deals machen, aber nicht eskalieren. Denn das wäre für die deutsche Industrie ein echtes Problem – zumal die Konjunktur ohnehin schon schwach ist.
Friedrich Merz (Einspieler):
„Für mich wird absolute Priorität haben, so schnell wie möglich Europa so zu stärken, dass wir Schritt für Schritt auch wirklich Unabhängigkeit erreichen von den USA.“
Titus Kroder:
Ein klares Statement von Friedrich Merz in der Elefantenrunde. Was würde diese Loslösung wirtschaftlich bedeuten – und was sagt der Kapitalmarkt dazu, Philipp?
Philip Gisdakis:
Das war in der Tat sehr deutlich. Ich kenne Friedrich Merz auch persönlich aus seiner Zeit bei BlackRock – er ist jemand, der sehr klar spricht.
Wenn man seine Worte weiterfasst, geht es nicht nur um Verteidigung, sondern auch um digitale Souveränität. Ein erheblicher Teil der „Magnificent Seven“ – also der großen US-Techkonzerne – erzielt seine Gewinne in Europa. Ihr Geschäftsmodell beruht auf Netzwerkeffekten – z. B. Log-in-Effekte bei Software.
Wenn Europa eine eigene digitale Infrastruktur aufbaut, könnte das diese Geschäftsmodelle langfristig angreifen. Die Innovationsökonomin Francesca Bria hat z. B. die „Eurostack-Initiative“ vorgeschlagen – ein europäischer Tech-Stack. Dauer: 10 Jahre. Kosten: rund 300 Milliarden Euro.
Wenn das Realität wird, wären die Auswirkungen auf US-Tech-Konzerne und die Kapitalmärkte erheblich.
Titus Kroder:
Lass uns noch kurz auf den Aktienmarkt eingehen. Seit dem Amtsantritt von Donald Trump im Januar als US-Präsident ging es da ja immer weiter aufwärts. Davor war auch schon ein positiver Trend zu bemerken. Ist dieser Trend nun nach der Bundestagswahl noch intakt? Und was treibt die Märkte aktuell – auch mit Blick auf eine sehr wahrscheinliche Ära Merz?
Philip Gisdakis:
Die Aktienmärkte in Europa – allen voran der deutsche – waren ja seit Jahresbeginn bereits sehr stark. Das Ergebnis der Bundestagswahl war im Grunde schon eingepreist – das sieht man daran, dass der Markt am Tag nach der Wahl nicht noch einmal besonders stark nach oben reagiert hat.
Natürlich: Sollte die neue Bundesregierung wirtschaftsstärkende Maßnahmen auf den Weg bringen, könnten das zusätzliche Effekte sein. Aber dafür muss sich die allgemeine Stimmung in Europa auch spürbar aufhellen.
Wenn das gelingt, kann sich die positive Dynamik an den Aktienmärkten durchaus fortsetzen – mittelfristig bis langfristig. Kurzfristig aber gilt: Ein großer Teil des Optimismus ist bereits im Markt enthalten. Ich würde also nicht damit rechnen, dass wir alle zwei Monate 10 bis 12 Prozent Rendite sehen.
Die Voraussetzungen für weiteres Wachstum sind da – aber es braucht jetzt konkrete Impulse und vor allem: Bestätigung, dass diese Richtung auch umgesetzt wird.
Titus Kroder:
Hat sich denn grundsätzlich etwas geändert an eurer Portfoliostrategie, nachdem jetzt klar ist, dass eine große Koalition wahrscheinlich ist?
Philip Gisdakis:
Grundsätzlich nicht – denn genau dieses Ergebnis war unsere Arbeitshypothese. Unsere Allokation ist aktuell noch auf eher defensive, nicht-zyklische Branchen ausgerichtet. Sollte es aber zu glaubwürdigen und deutlichen Signalen für ein wirtschaftliches Comeback in Europa kommen – also z. B. starke Infrastrukturprogramme –, dann würden wir die Strategie anpassen.
Das würde dann bedeuten: stärkerer Fokus auf zyklische Sektoren – wie etwa die Chemiebranche, Grundstoffe, Bau und baunahe Dienstleistungen. Solche Unternehmen profitieren besonders, wenn das Wirtschaftswachstum anzieht.
Noch ist es aber nicht so weit. Wir beobachten die Lage weiter und würden unsere Strategie anpassen, sobald klare, verlässliche Signale da sind.
Titus Kroder:
Andreas, dich noch abschließend gefragt: Koalitionsgespräche dauern oft gefühlt ewig. Friedrich Merz sagt, bis Ostern – also in etwa acht Wochen – soll eine neue Regierung stehen. Ist das realistisch?
Andreas Rees:
Was dafür spricht, ist der enorme Druck, unter dem die Parteien stehen. Die Weltlage ist angespannt – Stichwort Trump, geopolitische Risiken – und auch wirtschaftlich ist Deutschland aktuell nicht in guter Verfassung.
Dazu kommt: Wenn man sich die bisherigen Regierungsbildungen seit der Wiedervereinigung anschaut, dann liegt der Durchschnitt bei ein bis zwei Monaten. Die einzige Ausnahme war 2017 – damals dauerte es wegen des Jamaika-Poker und dem Scheitern der ersten Verhandlungsrunde rund ein halbes Jahr. Aber das war die Ausnahme.
Ich halte acht Wochen durchaus für realistisch – wenn der politische Wille da ist.
Titus Kroder:
Die Wählerinnen und Wähler haben abgestimmt – aber auch nach dem Wahlabend müssen wir in Wahrscheinlichkeiten und Szenarien denken.
Ein nicht ganz unwahrscheinliches Szenario ist die Bildung einer Koalition aus CDU und SPD. Für Unternehmen, Wirtschaft und Investoren wäre das nicht die schlechteste Aussicht – vorausgesetzt, die zahlreichen Herausforderungen landen nicht wieder in einem politischen Klein-Klein, sondern es gibt mutige, rasche und tragfähige Lösungen.
Am 10. März wissen wir vermutlich schon mehr. Dann erscheint die nächste reguläre Folge des HVB-Marktbriefings – wie gewohnt als Stream und Download.
Vielen Dank an unser Expertenteam für die schnellen und differenzierten Einordnungen direkt nach der Bundestagswahl 2025. Die erwähnten Studien und Quellen sind wie immer in den Shownotes verlinkt.
Andreas Rees:
Andreas Rees
Philip Gisdakis:
Philip Gisdakis
Titus Kroder:
Und Titus Kroder – sagen Tschüss und bis übernächste Woche.