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HVB-Marktbriefing – Audio vom 10.03.2025

"Giga-Finanzpaket: Was bringt die "Bazooka" bei Verteidigung und Infrastruktur?
+++ Aktien: Wer profitiert?"


Titus Kroder:
Herzlich Willkommen zum HVB-Marktbriefing. Tja, es geht Schlag auf Schlag in der internationalen Diplomatie und entsprechend schnell geht es auch in der deutschen und der EU-Politik zu. Eine völlig neue US-Außen- und Außenwirtschaftspolitik nimmt Gestalt an, und damit wird die Zeitenwende, die eigentlich schon die alte Regierung in Deutschland angekündigt hatte, nun wohl tatsächlich Wirklichkeit.

CDU und SPD haben sich auf ein wahrhaft gigantisches Aufrüstungs- und Investitionspaket verständigt, unter anderem, um sich sicherheitspolitisch von den USA zu lösen. Und was wir heute im Marktbriefing klären wollen, ist: Was bedeutet das für unsere Staatsfinanzen? Was bedeutet es für die deutsche Wirtschaft? Und natürlich: Was bedeutet es für die Finanzmärkte, die bereits auf diese Jahrhundertentscheidung reagiert haben?

Bei mir sind Andreas Rees, Chefvolkswirt der HVB, und Christian Stocker, leitender Aktienstratege der Bank. Erneut vielen Dank euch beiden, dass ihr in diesen turbulenten Zeiten selbst die Zeit findet, am Marktbriefing teilzunehmen. Hallo erstmal an euch beide.

Andreas Rees:
Hallo, grüßt euch.

Christian Stocker:
Ja, hallo zusammen.

Titus Kroder:
Andreas, Friedrich Merz hat die Worte Mario Draghis aus der Eurokrise recycelt. Für die Sicherheit Europas und Deutschlands gelte nun „whatever it takes“, sagte der CDU-Chef. Es gelte also nun zu tun, was immer nötig ist. Es geht um ein Ausgabenpaket in dreistelliger Milliardenhöhe und es geht sogar um ein Lösen der Schuldenbremse im Grundgesetz. All das schauen wir uns gleich noch im Detail an, aber zunächst mal dich gefragt: Was war deine erste Reaktion auf diese mächtige Ausgaben-Bazooka, die Merz hier in Stellung bringen möchte?

Andreas Rees:
Bei mir war das so eine Mischung aus: Ja, das habe ich erwartet – aber es war auch ein großes „Ups“ dabei. Denn mit der Lockerung der Schuldenbremse für Verteidigung in dieser speziellen Form – damit habe ich nicht gerechnet. Ich hatte gedacht, dass es bei den Militärausgaben auch ein neues Sondervermögen geben wird, das gedeckelt ist, so wie bei der Infrastruktur. Also da war schon eine gute Portion Überraschung dabei, aber auch der Gedanke, dass das jetzt schon ein gewaltiger Einschnitt ist – politisch und natürlich wirtschaftlich.

Titus Kroder:
Christian, du rechnest als Aktienstratege ja viele Finanzmarkt- und Unternehmensdaten und ermittelst Anlagechancen. Was ist – zunächst ganz pauschal gesprochen – deine erste Einordnung dieses historischen Ausgabenpakets?

Christian Stocker:
Meine erste Einordnung ist: Wir werden mehr Investitionen bekommen in Deutschland, in Europa. Das bedeutet auch mehr Nachfrage. Mehr Nachfrage bedeutet bessere Gewinnaussichten für die Unternehmen. Das ist also gut für die Aktien, für den Aktienmarkt. Auf der anderen Seite: Die ganzen Ausgaben müssen auch finanziert werden – über Kreditaufnahme. Und das bedeutet höchstwahrscheinlich für längere Zeit höhere Zinsen und sinkende Kurse bei Staatsanleihen. Kurz zusammengefasst würde ich sagen: Vorteile für den Aktienmarkt, und wir werden Nachteile für den Rentenmarkt haben.

Titus Kroder:
Ökonomen diskutieren ja sehr kontrovers über die Tauglichkeit von Staatsausgaben als wirtschaftspolitisches Instrument. Dazu gehört auch die Debatte rund um die Schuldenbremse. Andreas, dich mal als Ökonom gefragt: Findest du denn so viel mehr Staatsausgaben, wie das jetzt geplant ist, aus fachlicher Sicht gut, nützlich und richtig?

Andreas Rees:
Ja, also es gibt ja diesen Begriff, den Margaret Thatcher geprägt hat: TINA – „There is no alternative“. Und das ist genau das, was wir im Moment erleben. Das ist so ein TINA-Moment, denke ich. Ich sehe einfach nicht die Alternative zu den höheren Staatsschulden.

Ich hoffe natürlich auch, dass es zumindest ein bisschen Einsparungen geben wird, aber alleine durch Einsparungen wird man diese ganzen Herausforderungen nicht bewältigen können. Wir haben bei der Infrastruktur von der Substanz gelebt in den letzten 10 bis 15 Jahren. Und es ist auch gut, dass sich da jetzt was ändert, dass mehr investiert wird – in Digitales, in Schulen, Kindergärten, Energieversorgung und so weiter. Ich denke, das wird sich auch auszahlen für die deutsche Wirtschaft.

Aber: Neben dieser fiskalpolitischen Bazooka brauchen wir auch noch einen zweiten Turbo speziell für die Unternehmen. Wenn man sich Umfragen anschaut – zum Beispiel von der DIHK – da hat fast jedes Unternehmen gesagt, dass die Bürokratie viel zu hoch ist. Das spricht schon Bände. Auch die Steuer- und Abgabenlast – das drückt sehr, sehr stark. Also da muss sich auch was ändern.

Was die Verteidigungsausgaben angeht – meine persönliche Meinung als Staatsbürger: Es geht halt nicht mehr anders. Donald Trump lässt uns einfach keine andere Wahl mehr.

Titus Kroder:
Du bist ja dieser Tage viel unterwegs, sprichst mit Kunden, gibst Einschätzungen in Präsentationen und Vorträgen. Die Geopolitik, Staatsfinanzen, Ukraine, USA – was davon macht denn deinen Gesprächspartnern am meisten Sorge?

Andreas Rees:
Der Fokus hat sich enorm stark verschoben bei den letzten Präsentationen mit den Kunden. Da haben wir über Militärausgaben diskutiert, über Ukraine-Hilfen – das war ein ganz wichtiges Thema. Aber die Kunden fragen natürlich auch nach den ökonomischen Folgen. Also genau das, was du gerade gesagt hast: Können wir uns die höhere Staatsverschuldung leisten? Wie geht es mit den Zinsen weiter? Gibt es vielleicht jetzt mehr Inflation?

Und was auch ein großes Thema ist, gerade bei den Immobilienkunden: Was bedeuten die staatlichen Bauprogramme für uns? Wenn der Staat viele Ressourcen in der Baubranche beansprucht – wird dann der private Bausektor vielleicht verdrängt? Oder treibt der Staat jetzt die Baukosten nach oben? Das waren auch häufige Fragen.

Titus Kroder:
Dass die USA unter Donald Trump deutlich mehr Engagement von Europa beim Thema Sicherheitspolitik erwarten, das ist eigentlich schon seit Langem klar. Nun scheint er aber doch ernst zu machen, der neue US-Präsident. Wie viel Geld brauchen wir eigentlich? Wie viel Geld braucht die EU, um sich da komplett neu aufzustellen – um also militärische Aggressoren künftig alleine abschrecken zu können?

Andreas Rees:
Ich bin natürlich kein Militärexperte, aber ich schaue mir natürlich auch Zahlen und Schätzungen an – von Militärexperten, von Think Tanks. Und es gibt solche Schätzungen, die gehen davon aus, dass die Militärausgaben der Europäischen Union – die liegen derzeit bei knapp zwei Prozent vom BIP – im Durchschnitt über alle Länder auf etwa dreieinhalb Prozent angehoben werden müssen.

Das entspräche zusätzlichen Ausgaben auf europäischer Ebene von rund 250 Milliarden Euro im Jahr. Für Deutschland würde das rund 65 Milliarden Euro mehr bedeuten. Und dieser Anteil – dreieinhalb Prozent Verteidigungsausgaben vom BIP – das könnte vielleicht auch ein Kompromiss sein zwischen den USA und den Europäern, mit dem dann vielleicht beide Seiten leben könnten.

Titus Kroder:
Die Militärhilfe für die Ukraine haben die USA nun pausiert. Wenn hier nun die Europäer die entstandene Lücke füllen müssen – wie viel käme da denn noch obendrauf als Finanzbedarf?

Andreas Rees:
Da kommt auf jeden Fall was obendrauf. Aber im Vergleich zu den zusätzlichen Militärausgaben – und das ist die gute Nachricht – ist die Summe eher gering. Wenn man sich das mal anschaut: Im Moment haben Europa einschließlich Großbritannien fast genauso stark die Ukraine militärisch mit Geldern unterstützt wie die USA – seit Beginn des Krieges vor drei Jahren.

Im letzten Jahr, 2024, kamen aus den USA Militärhilfen von rund 20 Milliarden Euro. Und wenn jetzt die Amerikaner diese Unterstützung wirklich vollkommen auf Dauer einstellen, dann würden eben die Ausgaben der Europäer um 20 Milliarden Euro steigen. Das wären etwa 0,1 Prozent vom europäischen BIP.

Also: Makroökonomisch wäre das verkraftbar. Das ist nicht das Problem. Aber: Das Problem ist vermutlich, viele der Rüstungsgüter müsste man bei amerikanischen Unternehmen erst einmal einkaufen, weil die Kapazitäten in Europa nicht da sind.

Wenn man sich die Top Ten der Rüstungsunternehmen weltweit anschaut – unter den ersten fünf sind ausschließlich US-Unternehmen. Auf Platz sechs kommt dann ein Unternehmen aus UK, dann drei aus China und eines aus Russland. Die Europäer sind auf absehbare Zeit – bevor sie die Kapazitäten hochfahren können – auf die Unterstützung der Amerikaner angewiesen. Gerade wenn es um Satelliten, militärische Aufklärung, Beschaffung von Informationen und so weiter geht.

Und neben der militärischen Unterstützung geht es natürlich über kurz oder lang auch um den Wiederaufbau der Ukraine.

Titus Kroder:
Christian, aus Sicht des Aktienstrategen dich mal gefragt: Wie haben die Aktien von Rüstungsunternehmen eigentlich reagiert auf die Nachricht von der großen Bazooka? Und wie sind sie nun auch mittelfristig zu bewerten? Kannst du da was sagen?

Christian Stocker:
Ja. Bei den europäischen Rüstungsaktien – das sieht man schon – die haben seit Jahresanfang bis zu 100 Prozent gewonnen. Ich würde sagen: Kurzfristig ist da sicherlich schon sehr, sehr viel eingepreist.

Auf der anderen Seite – wie Andreas schon gesagt hat – wir sollen auch nicht vergessen, dass die großen Rüstungsindustrien auch in Amerika und in Asien angesiedelt sind. Das heißt, ein Teil der Nachfrage geht auch in diesen Bereich.

Wovon die europäischen Rüstungsaktien sicherlich stark gewinnen, ist die Aussicht, dass wir in Europa entsprechend die Rüstungsausgaben erhöhen werden. Das ist jetzt nicht nur abhängig von der Ukraine-Hilfe, sondern insgesamt. Man sieht die Notwendigkeit, dass die Armeen in Europa auch wieder verstärkt aufgebaut werden müssen. Und da dürfte ein großer Teil auch an die europäischen Rüstungsindustrien fließen.

Aber wie gesagt: Ausländische Rüstungsunternehmen in Asien und Amerika sind da insgesamt deutlich größer.

Titus Kroder:
Andreas, du hast den Aspekt schon angesprochen: Sollte es nun zu einem Friedensabkommen zwischen der Ukraine und Russland kommen, dann steht auch der Wiederaufbau der Ukraine an – wie immer dann das neue Staatsgebiet aussehen wird. Was wird das denn kosten? Und hat das nicht vielleicht auch positive Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft?

Andreas Rees:
Es gibt eine Schätzung der Weltbank – zusammen mit der Europäischen Kommission und den Vereinten Nationen. Das ist eine aktualisierte Schätzung, die wurde Ende Februar veröffentlicht. Und diese Schätzung geht davon aus, dass der Wiederaufbau der Ukraine rund 520 Milliarden US-Dollar kosten wird.

Das ist sicherlich eine enorme Summe – aber man muss sie eben auch in Relation zur Wirtschaftskraft der Europäischen Union sehen. 520 Milliarden US-Dollar entsprechen ungefähr drei Prozent des europäischen BIP – pro Jahr. Und die Gelder würden natürlich auch nicht sofort abgerufen werden, sondern über einen längeren Zeitraum.

Auch hier würde ich sagen: Makroökonomisch über einen Zeitraum von ein paar Jahren – das wäre verkraftbar.

Titus Kroder:
Kurzer Gegencheck am Aktienmarkt: Christian, spiegelt sich bereits diese geschäftlich lukrativen Aussichten auf Wiederaufbauprojekte am Aktienmarkt?

Christian Stocker:
Das spiegelt sich ganz klar wider. Und man muss auch sehen: Es sind ja nicht nur die Bauunternehmen im Zusammenhang mit der Ukraine, die profitieren. Es muss ja in der Ukraine auch wesentlich mehr aufgebaut werden – komplette Infrastruktur.

Das bedeutet nicht nur der Bau, sondern auch Maschinenbau, Kraftwerke müssen gebaut werden – nur als Beispiel. Und auch in Deutschland und vielfach in Europa haben wir einen großen Investitionsstau. Das heißt, insgesamt muss ich schon sagen: Unternehmen im Bereich Maschinenbau, Zuliefererindustrie, Chemie, Technologieunternehmen – da profitiert eine ganz breite Masse im Bereich der Industrie.

Und man sollte auch nicht vergessen – was vielleicht auf den ersten Blick so ein bisschen komisch klingt – aber auch Banken profitieren. Sie profitieren davon – wie ich eingangs schon gesagt habe –, dass das Zinsniveau höher bleiben dürfte in den kommenden Jahren. Das heißt, die Zinseinkommen der Banken werden sich stabilisieren auf dem höheren Niveau. Und das ist entsprechend auch gut für die Banken.

Titus Kroder:
Finanzminister haben ja in der Regel zwei Hebel zur Verfügung: einmal Schulden zu machen – was nun ja in gigantischem Umfang geplant ist – oder eben die Steuern zu erhöhen, also die Einnahmeseite zu stärken.

Andreas, für wie wahrscheinlich hältst du es, dass an dieser zweiten Stellschraube nun auch noch gedreht wird? Dass also Steuererhöhungen mit einer neuen Regierung in Deutschland kommen könnten?

Andreas Rees:
Ich halte das für unwahrscheinlich. Und wenn ich jetzt eine Empfehlung geben darf: bloß keine Steuererhöhungen. Ich denke, es ist unwahrscheinlich, dass sie kommen – und es ist auch wirklich nicht empfehlenswert.

Denn wir brauchen eine stärkere Wirtschaft und keine noch schwächere. Das ist jetzt wirklich definitiv nicht der Zeitpunkt für Steuererhöhungen. Es ist ökonomisch sinnvoll, die höheren Militärausgaben erst einmal über eine höhere Staatsverschuldung zu finanzieren.

Aber es muss auch, denke ich, Umschichtungen geben aus bestehenden Töpfen – gerade auf europäischer Ebene. Es gibt im Moment – oder eigentlich schon seit Wochen – eine intensive Diskussion darüber, über welche Kanäle und Instrumente die Finanzierung erfolgen könnte.

Das würde jetzt den Rahmen des Podcasts sprengen, wenn ich alles aufzähle – aber mal ganz grob: Wenn es um Verschuldung geht, gibt es auf europäischer Ebene den Vorschlag, sogenannte Defense Bonds zu emittieren. Oder man könnte den ESM – den europäischen Rettungsschirm – einbinden, der vor über zehn Jahren während der Eurokrise gegründet wurde. Auch dort könnte man Gelder anzapfen.

Man könnte mit Hilfe der Europäischen Investitionsbank versuchen, privates Kapital zu mobilisieren, damit die staatliche Verschuldung weniger stark ansteigt. Man könnte bestehende Geldtöpfe der EU nutzen und umschichten – zum Beispiel Koalitionsfonds umwidmen. Oder auch Mittel aus dem „Next Generation EU“-Fonds – der während der Pandemie aufgelegt wurde – abzweigen.

Titus Kroder:
Passend zu dieser Frage: Ist es denn prinzipiell sinnvoller, all diese neuen Finanzlasten – für militärische Schlagkraft, Rüstungshilfe, Wiederaufbau etc. – gemeinsam in der EU zu schultern? Oder empfehlen sich da eher getrennte Wege?

Was ist da für dich der Königsweg?

Andreas Rees:
Der Königsweg wäre für mich: Europa geht gemeinsam vor. Und man anerkennt, dass Sicherheit und Verteidigung ein gemeinsames Gut auf europäischer Ebene ist.

Ein koordiniertes Vorgehen würde auch deshalb absolut Sinn machen – denn wenn man gemeinsam Militärgüter beschafft, dann könnte man bei den Rüstungsunternehmen auch zumindest etwas niedrigere Preise und bessere Konditionen durchsetzen, als wenn jetzt jedes einzelne Land alleine bestellt.

Außerdem können sich die Länder absprechen und Schwerpunkte bei der Beschaffung setzen. Also ja: Das wäre für mich der Königsweg.

Titus Kroder:
Könnten sich denn die meisten EU-Länder überhaupt so große Sprünge in den Staatsausgaben leisten? Ich denke da an Italien oder Frankreich – die sind ja bereits sehr hoch verschuldet. Den Fall Frankreich hatten wir erst kürzlich im Podcast diskutiert. Wie sieht das denn aus mit den Schuldenquoten in Deutschland und den anderen EU-Staaten?

Andreas Rees:
Der Schuldenstand ist in der EU kräftig angestiegen – in den letzten 15 bis 20 Jahren. Wir hatten ja eine Abfolge von Krisen: Zuerst die globale Finanzmarktkrise 2008/2009, dann kam wenig später die Eurokrise, und zuletzt die Pandemie. Das hat natürlich Spuren hinterlassen – auch bei der Verschuldung.

Im Moment liegt die Staatsverschuldung in der EU bei rund 80 % des BIP. In Deutschland sind wir bei knapp 65 %. Aber zum Vergleich: Die Amerikaner sind noch viel höher verschuldet – da liegt der staatliche Schuldenstand bei rund 120 % des BIP.

Ganz wichtig zu verstehen: Es gibt keinen magischen Schwellenwert, ab dem das Ganze nicht mehr funktioniert, ab dem die Staatsverschuldung zu hoch wird. Das gibt es so nicht.

Wichtig ist: Wir brauchen mehr Wachstum, wir brauchen eine kräftige Wirtschaft. Denn wenn das BIP wieder ordentlich steigt, dann bleibt auch die Staatsverschuldung in Relation zur Wirtschaftsleistung einigermaßen erträglich.

Titus Kroder:
Christian, Europa will sich sicherheitspolitisch abkoppeln von den USA. Und etwas Ähnliches tut ja interessanterweise auch der europäische Aktienmarkt: Der steigt und steigt, während die US-Börsen wieder schwächer notieren, seit Trump die Politik aufwirbelt. Was steckt da deiner Meinung nach dahinter – und wie geht das weiter mit dieser Entkopplung?

Christian Stocker:
Meiner Meinung nach ist ein ganz wichtiger Punkt in den USA die zunehmende politische Unsicherheit. Wir haben außenpolitische Unsicherheit, geopolitische Unsicherheit, handelspolitische Unsicherheiten – und Unsicherheit mag die Börse nicht.

Zudem haben wir hohe Bewertungen in den USA. Der US-Aktienmarkt ist in den letzten zwei Jahren ja sehr, sehr stark gestiegen. Und diese Kombination aus Unsicherheit und hoher Bewertung führt zunehmend zu Gewinnmitnahmen.

In Europa dagegen haben sich die Erwartungen hinsichtlich einer besseren Konjunktur deutlich verbessert. Die geplanten fiskalpolitischen Pakete werden sicherlich dafür sorgen, dass wir in den kommenden Jahren zunehmende Infrastrukturausgaben haben – das haben wir ja heute schon diskutiert. Und das bedeutet: Der Blick auf Europa könnte sich auch langfristig ändern.

Wie die Politik und die konkreten Beschlüsse letztlich aussehen, muss man abwarten. Auch das Thema Zölle aus den USA bleibt ein großes Thema. Aber sollten die hohen Infrastrukturausgaben wirklich Realität werden, dann hätte das starke unterstützende Auswirkungen auf die Gewinnentwicklung europäischer Unternehmen – und dadurch natürlich auch auf die europäische Börse.

Titus Kroder:
Wie steht es denn derzeit mit dem Kurs-Gewinn-Verhältnis bei deutschen oder europäischen Aktien – und was besagt das über das noch vorhandene Potenzial?

Christian Stocker:
Europäische Aktien haben einen Discount gegenüber den US-Aktien von knapp 40 %. Also: 40 % billiger im Kurs-Gewinn-Verhältnis gerechnet als US-Aktien.

Der Durchschnitt der letzten 25 Jahre lag bei einem Abschlag von rund 17 %. Wir sind also nur halb so teuer bewertet wie im Durchschnitt der letzten Jahrzehnte. Das ist sicherlich kein Timing-Instrument – aber es zeigt: Wenn die Konjunktur in Europa in den kommenden Jahren an Fahrt gewinnt, dann hat der europäische Aktienmarkt deutliches weiteres Aufholpotenzial.

Titus Kroder:
Immer wieder sprechen wir im Podcast auch über die Gewinnerwartungen. Das sind ja wichtige Kennziffern für Investoren und für das Gesamtmomentum an den Börsen. Wie sieht es denn derzeit aus im deutschen Aktienuniversum – vielleicht auch im internationalen Vergleich? Und stützt das grundsätzlich die Aktienkurse?

Christian Stocker:
Das stützt auf jeden Fall. Wenn man sich international das Umfeld anschaut: Das Gewinnwachstum in den USA ist auf einem hohen Niveau, tendiert aber eher seitwärts.

In Europa sind seit Jahresanfang deutliche Gewinnsteigerungen – speziell in den Erwartungen auf Sicht der nächsten zwölf Monate – festzustellen. Gerade auch Anfang des Jahres hat die Diskussion um eine Lockerung bzw. Reform der Schuldenbremse schon dazu geführt, dass die Gewinnerwartungen in Europa gestiegen sind.

Mit den Aussichten auf die enormen fiskalpolitischen Maßnahmen, die nun anstehen, dürfte sich dieser positive Trend in Europa nochmals beschleunigen – in den kommenden Monaten. Ich gehe also davon aus, dass wir bis zum Jahresende auf jeden Fall noch deutlich stärkere Gewinnsteigerungen sehen werden in Europa, als wir bisher gesehen haben.

Titus Kroder:
Mehr Gewinne für die Firmen heißt auf aggregierter Ebene eines Bruttoinlandsprodukts natürlich auch mehr Wachstum. Andreas, kommt nun das deutsche Wirtschaftswachstum endlich wieder in Schwung – wo so viele Firmen jetzt mit Nachfrage aus den Rüstungs- und Infrastrukturprojekten rechnen können? Und bringt das vielleicht auch nicht wieder höhere Inflationswerte?

Andreas Rees:
Ja, es wird auf jeden Fall ein höheres Wachstum geben durch die staatlichen Ausgaben. Das ist im Prinzip ganz simpel. Es wird allerdings Zeit beanspruchen – vermutlich nicht in diesem Jahr, weil das alles ordentlich geplant und erst danach umgesetzt werden muss.

Aber das könnte im nächsten Jahr in Deutschland schon ein halbes Prozent mehr sein beim Wachstum – beim BIP. Vielleicht sogar etwas mehr. Und ich denke auch: Mittel- bis längerfristig wird sich eine bessere Infrastruktur definitiv auszahlen.

Aber – und das finde ich ganz wichtig: Diese staatlichen Ausgaben sind natürlich kein Perpetuum Mobile für die Wirtschaft, bei dem man einfach die Hände in den Schoß legt und alles läuft dann von selbst.

Was ich schon zu Beginn gesagt habe: Wir brauchen auch eine Bazooka – ein „Big Bang“ – speziell für die Anliegen der Wirtschaft und der Unternehmen. Also: weniger Bürokratie, geringere Steuern, geringere Sozialabgaben. Das hilft nicht nur den Unternehmen – das brauchen wir auch, damit wir die Programme für die Infrastruktur und Verteidigung in den nächsten Jahren ordentlich umsetzen können.

Was die Inflation anbelangt: Ich glaube nicht, dass die Ausgabenprogramme die Verbraucherpreise insgesamt stark anheizen werden. Das wäre mir zu pauschal – so kann man das nicht sagen.

Aber: Wo der Staat wirklich als Preistreiber auftreten könnte, das ist im Bausektor. Wir sehen gerade erste Anzeichen einer Erholung der Baukonjunktur. Die Kapazitätsauslastung wird wieder steigen – das heißt, über kurz oder lang werden da auch die Kapazitäten knapper. Und dann kommt eben noch der Staat als starker Nachfrager dazu – für Straßen, Schulen, möglicherweise auch für Kasernen.

Da sehe ich also schon das Potenzial für Preissteigerungen und höhere Baukosten.

Titus Kroder:
Andreas Rees und Christian Stocker waren das – vielen Dank euch beiden. Vielen Dank an unsere Experten.

Die voraussichtlich neue deutsche Regierung macht also Nägel mit Köpfen – und startet gewaltige Neuerungen. Ausgabenprogramme – und das im Konzert mit anderen EU-Ländern. Damit besteht die Wahrscheinlichkeit, dass beides – die Wirtschaft und zumindest die Aktienmärkte – in Schwung kommen dürfte.

Das war das HVB-Marktbriefing. Unter richten Sie gerne Fragen und Anregungen an uns – die wir gerne aufgreifen. Die erwähnten Studien und Papers sind in den Shownotes verlinkt.

Mehr Analyse und Einschätzungen in diesen bewegten Zeiten wieder am 24. März – ab da steht der nächste Download bereit. Das war’s ganz aktuell vom Team Marktbriefing:

Andreas Rees: Andreas Rees
Christian Stocker: Christian Stocker
Titus Kroder: …und Titus Kroder. Machen Sie es gut!